Beweisen

Überblick

0. Prolog
1. Wie startet der Aufbau eines Teilgebiets der Mathematik
2. Fortsetzung des Aufbaus durch den Ausbau der Wissensbasis
3. Beobachten versus Schließen
4. Vier Grundmerkmale des Schließens
4.1. Schließen ist abstrakt
4.2. Schließen ist korrekt
4.3. Schließen ist kontrollierbar
4.4. Schließen ist universell
5. Was ist ein Beweis
6. Die Rolle von Bildern in der Mathematik
7. Ausblick
8. Das MSM-Skriptum zum Thema Beweisen
8.1. Inhaltsverzeichnis
8.2. Eine Kostprobe

0. Prolog

Anfänger überspringen gern die im Studium präsentierten Beweise. Dies ist zu einem großen Teil dem Zeitdruck geschuldet, dem Studierende durch die immense Stofffülle ausgesetzt sind. Manche schaffen die Prüfungen auch ohne Studium der Beweise. Und für viele ist jeder Beweis ein neues, kaum verständliches Abenteuer. Das hat sich seit Jahrzehnten nicht geändert, müsste aber nicht so sein.

Das MSM befähigt jeden Studierenden, der die Fachsprache gelernt hat, auch beliebige Beweise nachvollziehen zu können (ohne Fachsprache kein Beweisen). Beweisen passiert nämlich durch das Anwenden einer überschaubaren Anzahl von Regeln, die sich an den logischen Strukturen der Fachsprache orientieren.

Diese Regeln müssen und können erlernt und deren Anwendung kann routinemäßig beherrscht werden. Dies gelingt im MSM durch explizite Erklärung und Übung an Beispielen.

1. Wie startet der Aufbau eines Teilgebiets der Mathematik?

Die folgende Vorgangsweise nennt man auch die axiomatische Methode. Um ein Teilgebiet im Universum der Mathematik aufzubauen (zu beschreiben, zu erklären) muss man:

  1. metasprachlich den Laufbereich der Variablen festlegen, d.h. analysieren, welche Individuen (Fabelwesen) man überhaupt beschreiben möchte.
  2. Begriffe einführen, damit man überhaupt über die im Teilgebiet interessierenden Individuen, Funktionen und Prädikate reden kann.
  3. Axiome einführen, welche die Bedeutung der Grundbegriffe regeln.

Die Gesamtheit aller als wahr bekannten Aussagen in einem Teilgebiet der Mathematik nennt man auch die dort verfügbare Wissensbasis. Beim Start des Aufbaus besteht die Wissensbasis nur aus den Axiomen. Anders formuliert weiß man beim Start nicht mehr, als man sich über die Grundbegriffe in den Axiomen wünscht und deshalb als gültig voraussetzt.

2. Fortsetzung des Aufbaus durch den Ausbau der Wissensbasis

Die Mathematik wird dann nutzbar, wenn man ein in der realen Welt betrachtetes Problem über den Dreischritt Modellieren → Schließen → Anwenden mit der Methode der Mathematik lösen möchte. Dazu muss man aber über die Fabelwelt, in welche ein Teil der realen Welt durch das Modellieren übersetzt wurde, sehr viel wissen. Denn nur mehr Wissen ermöglicht immer bessere Verfahren (Algorithmen) zur Lösung von Problemen.

Deshalb wurde und wird die Ideenwelt der Mathematik durch die Vermehrung der Wissensbasis immer mehr ausgebaut. Ein Ausbau der Wissensbasis könnte auch dadurch erfolgen, dass man weitere Axiome hinzufügt. Allerdings besteht dann die Gefahr, dass man eine neue Aussage als wahr anerkennt, die zusammen mit der bereits vorhandenen Wissensbasis gar nie wahr sein kann (im Widerspruch steht). Dies kann nicht passieren, wenn man eine neue Aussage erst dann in die Wissensbasis aufnimmt, wenn man sie verifiziert hat. Genauer formuliert wird eine neue Aussage Teil der Wissensbasis, wenn man sie unter der Annahme, dass die bereits vorhandene Wissensbasis wahr ist, als gültig nachgewiesen hat. Jede verifizierte Aussage im Universum der Mathematik heißt zum Unterschied zu den Axiomen je nach ihrer Tragweite ein Lemma, ein Satz oder ein Theorem.

Beim Aufbau der Mathematik haben sich viele Mathematiker damit beschäftigt, den Ausbau der Wissensbasis mit möglichst wenig Axiomen zu starten. Je weniger Axiome man einführt, desto weniger muss man speichern, um alles Weitere durch Verifizieren zu wissen. Dieser Gesichtspunkt spielt aber für Anwender der Mathematik und auch für die meisten Studierenden keine Rolle. Im Normalfall geht die Abhandlung eines Themas von sehr viel mehr Wissen aus als nur von den Axiomen.

Die Wissensbasis für ein Teilgebiet der Mathematik kann also z.B. enthalten:

  • Axiome (wahr angenommen, beliebige Syntax)
  • Definitionen (wahr angenommen, nur spezielle Syntax)
  • Sätze (bereits verifizierte Aussagen)
  • allgemeingültige Aussagen (bei jeder Interpretation wahr, z.B. A oder nicht A)

3. Beobachten versus Schließen

Aussagen der Umgangssprache, die Sachverhalte in der mit den Sinnen zugänglichen realen Welt beschreiben, können durch Beobachten der realen Welt verifiziert werden.

Aussagen der Fachsprache, die Sachverhalte in der Ideenwelt der Mathematik beschreiben, können grundsätzlich nicht durch Beobachten verifiziert werden, weil die Fabelwelt der Mathematik nur im Gehirn existiert und nicht mit den Sinnen zugänglich ist.

  • Der Teil des menschlichen Bewusstseins, der uns von anderen Lebewesen unterscheidet, ist die Vernunft. Ein charakteristisches Merkmal der Vernunft ist die Fähigkeit zum Schließen, z.B. zum Arbeiten in der Kunstwelt der Mathematik, die auch als Modell eines Ausschnitts der realen Welt betrachtet werden kann.
  • Schließen kann als Denkleistung des Gehirns verstanden werden, von einer gewissen Anzahl bereits vorhandener Aussagen, den so genannten Prämissen (lateinisch: praemittere, voranstellen) zu einer neuen Aussage, der so genannten Conclusio (lateinisch: concludere, folgern) übergehen zu können. Einen solchen Übergang nennt man auch Folgern und man sagt: ″Aus den Prämissen folgt die Conclusio.″

4. Vier Grundmerkmale des Schließens

4.1. Schließen ist abstrakt

Das Arbeiten im Universum der Mathematik erfolgt losgelöst von der realen Welt. Dies ist ja gerade die Quintessenz von Mathematik, weil Probleme in der realen Welt durch Bearbeiten des Modells und nicht durch Eingreifen in die reale Welt gelöst werden.

4.2. Schließen ist korrekt

Damit meint man: Falls die Prämissen beim (üblichen) Gebrauch der Begriffe und bei einer betrachteten Belegung der freien Variablen wahr sind, muss auch die Conclusio wahr sein.

4.3. Schließen ist kontrollierbar

Das Schließen erfolgt, je nach dem Erfahrungsstand, in verschieden großen Schritten. Damit ein Schlussschritt nachvollziehbar ist, muss man ihn kontrollieren können. Dies geschieht dadurch, dass man sich beim Schließen an gewissen elementaren Schritten orientiert, deren Korrektheit man schon eingesehen hat. Solche schon als korrekt eingesehene Schlussschritte dokumentiert man so, dass man in irgend einer Notation die Art der Prämissen und die daraus folgende Conclusio allgemein angibt. Eine solche Dokumentation nennt man eine Schlussregel.

  • Ein nachvollziehbarer korrekter Schlussschritt kann durch die Anwendung einer Schlussregel erzielt werden.
4.4. Schließen ist universell

Die Schlussregeln sind in dem Sinn universell, dass sie in allen Teilgebieten der Mathematik anwendbar sind, d.h. unabhängig davon, welche Bedeutung die in den Aussagen vorkommenden Begriffe haben.

5. Was ist ein Beweis?

Im Unterschied zur realen Welt verifiziert man im Universum der Mathematik eine Aussage nicht durch Beobachten, sondern durch Schließen. Meistens genügt nicht ein einzelner Schlussschritt, um eine interessierende Aussage verifizieren zu können. Im Allgemeinen braucht man dazu das Aneinanderfügen mehrerer Schlussschritte. Ein solches Vorgehen nennt man in folgendem Sinn einen Beweis:

  • Ein Beweis einer Aussage A mithilfe einer Wissensbasis W ist eine Folge (Aneinanderreihung) von Aussagen, wo jede Aussage der Folge
    • entweder eine Aussage aus W ist
    • oder aus vorhergehenden Aussagen der Folge (Prämissen) in einem Schlussschritt entsteht
    • und A in dieser Folge die letzte Aussage ist.

Man beachte, dass ein Beweis nur relativ zu einer vorhandenen Wissensbasis W betrachtet werden kann.

6. Die Rolle von Bildern in der Mathematik

Die Gedankenkonstrukte der Individuen, Funktionen und Prädikate im Universum der Mathematik können nicht direkt von den Sinnen erfasst, sondern nur über sichtbare oder hörbare Zeichen der Fachsprache beschrieben werden. Allerdings entwickelt das Gehirn eine so starke Vorstellungskraft, dass man oft die im Gehirn entstandenen Wahrnehmungen der Gedankenkonstrukte in Bildern (Zeichnungen) festhalten kann. Ein solches mehr oder weniger gutes Bild nennt man eine Visualisierung (Veranschaulichung, Sichtbarmachung, ″Portrait″) der involvierten Gedankenkonstrukte.

Die Fähigkeit des Gehirns, Gedankenkonstrukte zu visualisieren, hängt vermutlich auch damit zusammen, dass diese oft gerade durch das Anschauen und Idealisieren korrespondierender Konstrukte der realen Welt entstanden sind.

Zeichnungen sind eine unerschöpfliche, höchst willkommene und unverzichtbare Quelle unserer Intuition. Sie bergen aber auch eine psychologische Gefahr in sich. Weil man mithilfe einer Visualisierung ein Gedankenkonstrukt, dass sich den Sinnen entzieht, über die Hintertür doch noch ″anschauen″ kann, kann es passieren, dass das Bild mit dem Gedankenkonstrukt verwechselt wird. Die Bildungspolitik und die Didaktik haben es bisher noch nicht verhindern können, dass alle Schüler der Sekundarstufe z.B. eine mit dem Zirkel rundum gezogene Zeichnung für einen Kreis halten.

Beim Beweisen kann oft eine Zeichnung helfen, einen benötigten Schlussschritt ″sehen″ zu können. Da aber das Schließen als Arbeiten im Modell abstrakt (lösgelöst von der realen Welt, ″mit geschlossenen Sinnen″) erfolgen muss, haben die Zeichnungen selbst (als Teil der realen Welt) keine Beweiskraft.

Man mache sich auch klar, dass man beim Problemlösen mit Mathematik grundsätzlich nicht beweisen kann, ob gültige Aussagen der Fachsprache eine passende Übersetzung (ein adäquat gewähltes Modell) für einen Ausschnitt der realen Welt sind. Beweisen ist eben ausschließlich das Arbeiten innerhalb eines Modells. Ob ein Modell adäquat war, merkt man erst daran, ob die im Modell gefundene Lösung eine zufriedenstellende Lösung in der realen Welt liefert.

7. Ausblick

Im Prolog wurde festgestellt, dass das Beherrschen der Fachsprache eine Voraussetzung für das routinemäßige Erlernen des Beweisens ist. Denn die Technik des Beweisens von Aussagen, die in der Fachsprache formuliert sind, setzt sich zusammen aus

  • Rechnen (dem beweistechnischen Umgang mit Variablen und dem Gleichheitszeichen)
  • Aussagenlogik (dem beweistechnischen Umgang mit Junktoren)
  • dem beweistechnischen Umgang mit Quantoren

Alle dazu nötigen Regeln werden im MSM trainiert. Die Fähigkeit, beliebige Beweise routinemäßig nachvollziehen zu können, ist für jeden eine gewaltige Steigerung seines mathematischen Potentials.

Die Fähigkeit, selber Beweise machen zu können (falls man dies braucht), stellt sich meistens erst nach sehr viel Erfahrung und intensiver Beschäftigung mit dem betrachteten Teilgebiet der Mathematik ein und kann realistischerweise nicht vom MSM in kurzer Zeit mitgeliefert werden.

Diese Erstinformation über Beweisen soll eine Diskussionsgrundlage für eine erste Seminareinheit über diese Thema sein.

8. Das MSM-Skriptum zum Thema Beweisen

8.1. Inhaltsverzeichnis

Beachte den Hinweis beim Seminarthema Fachsprache im dortigen Abschnitt 15.1. !

8.2. Eine Kostprobe